Wie viel Wahrheit ist möglich? Antworten und Anfechtungen

Besprechung von: Karen Gloy, Wahrheit und Lüge, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, 240 S., 24,80 €

Die Frage nach der Wahrheit gehört zu den traditionellen, aber auch traditionell schwierigsten Fragen der Philosophie. Nicht wenige identifizieren sie mit dem philosophischen Tun als solchem – als unablässige Suche nach Wahrheit, die kaum je an ein Ziel gelangt –, und der sprichwörtliche ‚Skandal der Philosophie‘ gibt der Enttäuschung darüber Ausdruck, dass all die Anstrengungen des menschlichen Geistes doch nie zu einer allgemein anerkannten Wahrheit geführt haben.

Perspektivität und Sinnestäuschung legen die Unterscheidung zwischen Sein und Schein nahe (M.C. Escher, Desenhos)

Karen Gloy unternimmt in ihrem zunächst unscheinbar wirkenden Buch den Versuch, Licht ins Dunkel dieser alten Frage zu bringen, und sie greift dabei auf eine Vielzahl von Denkansätzen und wissenschaftlichen Disziplinen sowie nicht zuletzt eigene ethnologische Feldforschung zurück. Die titelgebenden Begriffe Wahrheit und Lüge – eine Reminiszenz an Nietzsches Schrift Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne – fasst sie dabei recht weit als Verhalten auf, nicht im engen Sinne als Aussagen bzw. Eigenschaften von Aussagen. Daher fallen darunter nicht nur Sprechakte, sondern alle möglichen Verhaltensweisen, wie sie etwa auch bei Tieren vorkommen (Mimikry, Täuschung etc.).

Gloy betont durchgängig die Relativität von Wahrheit und Lüge, und das in (mindestens) dreifacher Hinsicht, ohne dass diese Zugänge – und das ist der erste Kritikpunkt – im Buch klar expliziert und geschieden wären: Erstens stellen Wahrheit und insbesondere Täuschung und Lüge im evolutionstheoretisch-naturalistischen Sinne Verhaltensweisen dar, die „der Durchsetzung und Lebensbewältigung“ (75) dienen und beim Menschen zwar besondere Formen annehmen (etwa die der Intrige oder der bewussten Leugnung von Fakten), prinzipiell jedoch in der Evolution vorgebildet seien. Eine Verurteilung falscher bzw. lügenhafter Aussagen und Verhaltensweisen, wie sie etwa in Platons Abwertung der Kunst als ‚Schein des Scheins‘ zum Ausdruck kommt, wird (mit Nietzsche) als einseitig und widernatürlich abgelehnt.

Haben Pragmatismus und postmoderner Relativismus das letzte Wort?

Darüber legt sich eine zweite, sozialpsychologische Ebene, wonach Wahrheit und Lüge als gleichberechtigte Verhaltensweisen bewertet werden können anhand der Alternative prosozial-antisozial. So wird etwa Donald Trump für seine Radikalisierung der politischen Kommunikation – d.h. ihrer fast völligen Entkoppelung von realen Sachverhalten – auch von Gloy kritisiert, weil er so die Grundlagen des Zusammenlebens untergräbt. Auf der anderen Seite nimmt sie die archaischen Riten und Praktiken von Naturvölkern in Schutz – als alternative Form der Welterschließung –, da diese den Zusammenhalt der Gruppe stärken bzw. ihn überhaupt erst konstituieren.

Auf einer dritten, der linguistisch-sprachphilosophischen Ebene, wird dem Problem der Vermittlung von Sprache und Welt ausführlich nachgegangen. Dabei zeigt sich eine vom weltgeschichtlichen Triumph der westlichen Zivilisation verdeckte Pluralität von Zugangsweisen zur Welt und daraus resultierenden kulturellen Verschiedenheiten, die es laut Gloy zu achten und zu bewahren gelte: So spiegelten etwa Indiosprachen durch ihre Betonung der Konkretion und des je aktuellen Geschehens eine ganz andere Weltanschauung als die westliche, zur Abstraktion und zu Substantivierungen neigende: „Der zweifellos technischen Überlegenheit der naturwissenschaftlich geprägten Kultur steht die größere Sinnlichkeit und Sensibilität von Naturethnien gegenüber, die die Zivilisation verloren hat.“ (41)

Ebenso interessant und aufschlussreich ist die historische Untersuchung der Begriffe Wahrheit und Falschheit bzw. Lüge, die sich im zweiten Kapitel findet. So leite sich Wahrheit zunächst von einer möglichst objektiven und genauen Wiedergabe eines Geschehens ab – sozusagen einem Augenzeugenbericht –, wie sich noch im deutschen Wort „Wahrnehmung“ erhalten hat und wofür einige Sprachen sogar eine eigene grammatische Form ausgebildet haben (den sogenannten Inferentialis). Die Verpflichtung auf Wahrheit und ihre Privilegierung gegenüber der Falschaussage erwächst laut Gloy aus der Notwendigkeit gesellschaftlicher Organisation, die zunehmend komplexer wird und daher die Verlässlichkeit von Aussagen, Absprachen, Verträgen usw. erfordert. Vor allem unwahre oder fingierte Anklagen vor Gericht scheinen im Altertum ein riesiges Problem gewesen zu sein; ein Widerschein dessen findet sich noch im 8. Gebot der Bibel: „Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten.“

Ausgehend von dort kommt es – laut Gloy unter anderem ausgelöst durch die Erkenntnis von Sinnestäuschungen – zur folgenreichen Unterscheidung von Sein und Schein und damit jener Verschiebung im Wahrheitsverständnis, die den abendländischen Sonderweg ausmacht und bis heute prägt. Gloy zeichnet diesen unter anderem bei Platon gut nachvollziehbar nach, geht dann mit Nietzsche, Heidegger und dem linguistic turn die nächsten Schritte hin zum (post)modernen Relativismus und landet schließlich bei einem – auch evolutionstheoretisch und ethnologisch informierten – Standpunkt-Perspektivismus, der m.E. viel mit dem Pragmatismus gemein hat: „Alles, was sich erreichen lässt, ist die Wahrheit einer Gruppe oder eines Kulturkreises, welche Interessensgemeinschaften mit bestimmten Anliegen bilden und sich von anderen unterscheiden.“ (53)

Wie viel Wahrheit ist möglich angesichts von Sprach- und Denkgewohnheiten?

Demgegenüber wird „echte“ „Wahrheit im eigentlichen Sinne“ nur an einer Stelle überhaupt thematisiert und – im Geiste des Buches durchaus konsequent – auf eine (bloße?) „Glaubensangelegenheit“ (45) reduziert. Die Untersuchung gipfelt schließlich in einer anspruchsvollen Diskussion von Theorien zum Verhältnis von Sprache und Welt, in der Gloy eine vermittelnde Position zwischen dem Sprachrealismus des frühen Wittgenstein und dem radikalen Idealismus von Derrida zu beziehen versucht. Diese wird freilich, wie leider vieles in diesem Buch, mehr angedeutet als ausgeführt.

Damit sind wir bereits bei den Kritikpunkten. Karen Gloy hat ein anregendes, disparateste Theorien miteinander ins Gespräch bringendes Buch geschrieben – dem übrigens ein Lektorat gut getan hätte angesichts der vielen formalen und inhaltlichen Fehler –, eine Art postmoderne tour de force zur urphilosophischen Wahrheitsfrage. Anders als das akademisch wirkende Inhaltsverzeichnis jedoch suggeriert, haben wir es eher mit einer kommentierten Materialsammlung als einer stringenten Argumentation zu tun – beispielsweise wird immer wieder seitenlang Literatur referiert, ohne dass der Bezug zu den Thesen und Argumenten der Autorin klar ist. Oder haben wir es hier mit einem Gloy unfreiwillig unterlaufenden Rück-Übergang von der hypotaktischen (überordnenden, hierarchischen) zur parataktischen (nebenordnenden, aufzählenden) Denkform zu tun, um eine ihrer zentralen Differenzierungen auf das Buch selbst anzuwenden?

Ebenso gut könnte man die Verabschiedung eines emphatischen Wahrheitsverständnisses zugunsten der Differenz prosozial-antisozial als spezifisch weiblichen Zugriff auf die gesamte Fragestellung ansehen, der Erkenntnisprobleme den vermeintlichen Notwendigkeiten sozialen Miteinanders unterordnet – ein Indiz hierfür wäre die über das Buch verteilte, häufige Betonung der Berechtigung von Höflichkeitslügen sowie der gebotenen Beachtung von gesellschaftlichen Konventionen. (Dies nur um zu illustrieren, in welche Schwierigkeiten man gerät, wenn durch einen grundsätzlichen Relativismus sämtliche Wertmaßstäbe als kontingent erscheinen.) Einen weiteren blinden Fleck des Buches bildet die fast völlige Ausblendung von Herrschaftsfragen. Dass die abendländische Zivilisation am Ende eines todbringenden Siegeszugs mehr und mehr in sich geht, der eigenen Eindimensionalität überdrüssig wird und lapidar feststellt, ihre vielen Opfer hätten doch auch irgendwie ihre Daseinsberechtigung gehabt – ist das nicht auch eine Art philosophische Bankrotterklärung? Zwar gibt es immer wieder interessante Ansätze einer Kritik realer Verhältnisse – etwa wenn Gloy die mediale Übermacht kenntlich macht oder sich im Detail mit dem Vorwurf der „Lügenpresse“ (vgl. S. 189ff.) auseinandersetzt –, die Beobachtungen und Urteile fügen sich jedoch nicht zu einem Gesamtbild und wirken daher okkasionell und letztlich subjektiv. Wie könnte es jedoch angesichts des vertretenen relativistischen Standpunkts anders sein?

Was ist los mit der Moderne? Über Grenzen von Machbarkeit und Selbstermächtigung

Rezension zu: Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg: Residenz Verlag 2018, 133 S.

Obwohl es Rosa in dem schmalen Bändchen, das auf eine Vorlesung im Literaturhaus Graz im März 2018 zurückgeht, mit Rilke hält, hätte Eichendorffs Wünschelrute mindestens ebenso gut gepasst: „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ Unsere Weltbeziehung zu korrigieren, damit wir jenen ‚Gesang der Dinge‘ wieder häufiger oder überhaupt noch wahrnehmen – nichts weniger hat sich der kritische Sozialphilosoph vorgenommen. Man muss es ihm m.E. hoch anrechnen – denn kaum etwas ist so schwierig wie der Übergang von der Kritik zur Position –, und über weite Strecken gelingt es in vorliegendem Essay sehr gut. Das Zauberwort lautet Resonanz. Es stand im Zentrum seines opus magnum von 2016, wird hier im Zuge einer kultur- und gesellschaftskritischen Generaldiagnose weiter ausgebaut und dabei um wesentliche Dimensionen bereichert.

Hartmut Rosa
Der Soziologe und kritische Sozialphilosoph Hartmut Rosa sucht nach Auswegen aus den Aporien der Moderne.

Einer dieser Aspekte ist die titelgebende Unverfügbarkeit. Für Rosa ist sie irreduzibler Teil der condition humaine, und jeder Versuch, sie aufzuheben oder abzuschaffen, führt in die Irre. In der Moderne insgesamt sieht er jenes zum Scheitern verurteilte Streben am Werk, „das Unverfügbare verfügbar zu machen“ (9). Das Projekt der Moderne, für das Rosa neben einer Fülle an anderen Beispielen den europäischen Kolonialismus als Paradigma anführt, wäre somit – um Habermas zu variieren – nicht nur unabgeschlossen, sondern wesentlich unabschließbar, da bereits im Ansatz verfehlt.

Welche andere Haltung zur Welt ist noch möglich?

Das Verfügbarmachen als verhängnisvolle Kulturtechnik erfolgt in vier Schritten, und unschwer lässt sich darin der Siegeszug der instrumentellen Vernunft wiedererkennen: 1. Sichtbar machen, erkennen; 2. (Räumlich) erreichbar machen; 3. Beherrschen, unter Kontrolle bringen; und 4. (Für sich selbst) nutzbar machen. Die zentralen Begriffe, die dieses Weltverhältnis kennzeichnen, lauten Aggression, (Vergrößerung der) Weltreichweite und, als nur scheinbar paradoxe Folge davon, Weltverlust: Je mehr ich mich der Welt in all ihren Daseins- und Äußerungsformen bemächtigen will, desto mehr entzieht sie sich.

Rosa kann und will hier nicht stehenbleiben, er fragt stattdessen: „Welche andere Welthaltung ist überhaupt denkbar und möglich?“ (34), und hier kommt eben die Resonanz ins Spiel. An vielen lebensnahen Beispiele zeigt der Autor auf, wie man von der Welt bewegt werden kann, ihr antwortet und sich dabei selbst entwickelt, ohne in die Falle des Verfügbarmachenwollens zu geraten. Denn „Resonanz ist konstitutiv unverfügbar“ sowie „konstitutiv ergebnisoffen“ (44). Auslöser für gelingende Welterfahrung kann dabei vieles sein: Musik, Sport, eine Landschaft, die Liebe und anderes mehr. Ja, vielleicht liegt hierin sogar die größte Stärke der Theorie, denn Rosa zeigt, wie sich mit vergleichsweise einfachen, verständlichen Begriffen und Kategorien eine Fülle erhellender und treffender Einsichten sowohl auf lebensweltlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene gewinnen lässt.

Eine weitere treffende Pointe ist die sozusagen resonanztheoretische Reformulierung einer Dialektik der Aufklärung: Dass „die vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils strahlt“ (Adorno/Horkheimer) ist eine These, von der Rosa am Ende nicht weit entfernt zu sein scheint (worüber er vielleicht selbst erschrocken war und deshalb noch eine abmildernde Schlussbemerkung hinzugefügt hat). Tatsächlich zeigt das 21. Jahrhundert Züge einer monströsen Moderne, die sich begrifflich als Unverfügbarkeit zweiter Ordnung fassen lässt (Kapitel VII sei daher zur Lektüre besonders empfohlen):

„In vielerlei Hinsicht wird die spätmoderne Lebenswelt immer unverfügbarer, undurchschaubarer und unsicherer. Dies führt dazu, dass in vielen Lebensbereichen die lebenspraktische Unverfügbarkeit zurückkehrt, allerdings in verwandelter und beängstigender Form, gleichsam als selbst erschaffenes Monster.“ (124)

Auch das zentrale Motiv der Entmündigung ist hier klar zu erkennen; nur dass diese nicht durch Kulturindustrie, Technik oder Wissenschaft sich vollzieht, sondern gewissermaßen durch das Subjekt selbst: Das falsche Bewusstsein, das uns von der Welt zurückhält, machen bzw. sind wir je selbst. Es sei „sowohl institutionalisiert als auch habitualisiert“ und „durchzieht unsere sozialen Institutionen und Praktiken ebenso, wie [es] unsere innere Haltung prägt.“ (110)

Resonante Weltbeziehung aus dem Geist der Utopie

Dass Rosa trotzdem einen Ausweg sucht, verdient alle Bewunderung; hat seine Diagnose doch große Ähnlichkeit mit der jener, die meinten, dass ‚Praxis verstellt‘ sei oder man nur noch ‚auf Gott warten‘ könne. Natürlich lässt sich gegen einen solchen Versuch – der dem Programm einer „Entzauberung der Welt“ (Weber), das sich in zweiter Potenz als eine fehlgeleitete totale Mobilmachung erweist, konsequent aber romantisch eine Art Wiederverzauberung entgegenstellt – eine Menge einwenden; nur wenige Kritikpunkte seien hier kurz skizziert.

Auffällig ist zunächst der eigentümliche Ton, in dem die gelingende, resonante Weltbeziehung umrissen wird. Er hat etwas Weiches, esoterisch Anmutendes, er scheint etwas beschwören, evozieren zu wollen. Vielleicht ist das angesichts des Gegenstands unvermeidlich, da Rosa sonst selbst in den Widerspruch geriete, Unverfügbares verfügbar machen zu wollen; stattdessen bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als in poetischer oder gar erbaulich anmutender Sprache zu versuchen, „durch den Begriff über den Begriff hinauszugelangen“ (Adorno). Manchmal gelingt dies besser, manchmal weniger gut. Ähnlich wie der Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid, der seinerzeit mit Foucault begann und heute Interviews u.a. in der Brigitte gibt, scheint Rosa oft nur um Haaresbreite vom Diskurs um Achtsamkeit und ähnlichen Redeweisen entfernt, die möglicherweise selbst ideologischen Charakter tragen, da sie hoffnungslos von den Zurichtungen der kapitalistischen Warenwirtschaft überformt sind.

Daran lässt sich ein zweiter Kritikpunkt anschließen, der darin besteht, dass Rosa seine Überlegungen und besonders die lebenspraktischen Beispiele im pluralis majestatis einer Art bundesdeutschen Angestelltenkollektivs vorträgt. „Wir“ unterliegen diesem und jenem, wenn wir in den Urlaub fahren, wir erfahren Resonanz oder eben nicht, wenn wir lieben, fotografieren oder sportlich aktiv sind. Der Kulturkritiker steht nicht länger außerhalb des Geschehens, sondern nimmt den Standpunkt des „Man“ ausdrücklich ein – der einzige Elitismus, den Rosa sich erlaubt, ist der gefühlt immer etwas zu häufige Verweis auf die eigenen Bücher. Man kann das gut oder schlecht finden; das Fehlen utopischer Exzentrizitäten wie etwa Foucaults „Heterotopien“ verstärkt jedoch eher den klaustrophobischen Druck einer sich dem Menschen entziehenden, nihilistisch zugerichteten Umwelt.

Drittens fällt auf, dass hier nirgends von realen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen die Rede ist. Anders als Rosas ehemalige Kollegen Dörre und Lessenich, die zumindest aussprechen, dass ein Teil der Monstrosität der Moderne darin besteht, reale Gewaltverhältnisse und Ausbeutung zu verschleiern und zu überdecken, ohne sie real aufzuheben, ist bei Rosa ein theoretizistischer Zug zu beobachten: Statt etwa den Widerspruch von Kapital und Arbeit zu thematisieren, konstatiert er als „Grundkonflikt der Moderne“ die „kategoriale Verwechslung von Erreichbarkeit und Verfügbarkeit“ (66). Das klingt dann doch seltsam weltfremd und abgehoben.

Münchner Räterepublik: Klemperers doppelter Rückblick

Victor Klemperer, Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919, Berlin: Aufbau 2015, 263 S.

Vom Aufbau-Verlag aus dem Nachlass montiert, sind die bereits 2015 erschienenen Aufzeichnungen Victor Klemperers ein eigenwilliges Zeitdokument der Revolutionszeit in München: Durch die Gegenüberstellung der Zeitungsartikel von 1918/19 mit den späteren, bisher unveröffentlichten Erinnerungen von 1942 ergeben sich zahlreiche Sprünge und Redundanzen im Text; zeitweise droht dadurch die Orientierung etwas verloren zu gehen. Lesenswert sind die Texte jedoch allemal. Klemperer, damals 36-jährig und gerade von der Ostfront zurückgekehrt, wo er als Sanitäter und Berichterstatter Dienst leistete, erweist sich als genauer, unerbittlicher und durchaus um Pointen bemühter Beobachter des Geschehens in München.

Victor Klemperer (1881-1960), Beobachter der Münchner Räterepublik, um 1930

Seine Berichte an die konservativen Leipziger Neuesten Nachrichten, von denen ein gewichtiger Teil nie abgedruckt wurde, weil der Postlauf durch die Revolutionswirren zeitweise zum Erliegen kam, zeichnen jedoch ein subjektives, beinahe mehr über Klemperer selbst als über die Revolution aussagendes Zeitbild. Der nicht mehr ganz junge Privatdozent für Romanistik – „die Vertiefung in Montesquieu hatte mich nicht nur philologisch und literarisch bereichert“ (61) – zeigt sich über weite Strecken als bürgerlicher, vor allem um politische Freiheiten besorgter Charakter.

Die Revolution erscheint komisch und tragisch zugleich

An den Protagonisten der Revolution, von denen er Eisner, Landauer und Levien persönlich trifft, lässt er kein gutes Haar: Er beschreibt sie als naive, sich aus der Schwabinger Bohème rekrutierende Dilettanten, deren politische Romantik gefährlich sei – oder, für den Fall Leviens, Radikale, von denen außer Gewaltexzessen nichts zu erwarten sei. Auch die Münchner Bevölkerung kommt nicht gut weg. Klemperer hält sie für Mitläufer und Ahnungslose, die nicht verstehen, was vor sich geht und die sich willenlos treiben lassen. Etwas ratlos heißt es an einer Stelle im Rückblick von 1942: „Das Rätsel der bayerischen Volksstimmung oder Volksseele war unlösbar.“ (55) Und im „Revolutions-Tagebuch“ vom 17. April 1919: „Die Passivität ist die einzige echtbayerische Zutat zu dieser Revolution, die von Nichtbayern gespielt wird und fremde Namen und fremde Institutionen kindisch nachahmt.“ (117)

Auffällig an Klemperers Aufzeichnungen, sowohl den frühen aus München als auch den späteren – Klemperer, obwohl frühzeitig zum Protestantismus übergetreten, überlebte den Zweiten Weltkrieg in einem sogenannten „Judenhaus“ in Dresden –, sind zwei Dinge: Zum einen die allgemeine Unentschiedenheit und die für einen erfolgreichen Akademiker – Klemperer wurde 1920 Professor in Dresden – ausgeprägten Selbstzweifel, die durch seine heiter-ironische, pointenreiche Schreibweise mehr überspielt als kaschiert werden. Zum anderen aber das weitgehende Fehlen einer Auseinandersetzung mit politischen Ideen und deren historischen und philosophischen Voraussetzungen. Sämtliche politischen Lager werden wie beliebige Weltanschauungen behandelt, von denen man je nach Gusto die eine oder eben die andere wählen könne; politisches Personal und dessen Legitimation wird am Aussehen und Auftreten gemessen sowie an der Fähigkeit, zu repräsentieren und zu führen; und so überrascht  Klemperer über den Enthusiasmus fast ganz Münchens Kurt Eisner gegenüber ist, so bestürzt ist er über die Ermordung des Ministerpräsidenten unmittelbar vor seiner Abdankung.

Wie passen Skeptizismus und Kommunismus zusammen?

Die zentrale These Klemperers über die Münchner (Räte)Republik, die er von dem Forstwissenschaftler Karl Escherich (den er wohl zu Unrecht rechter Umtriebe verdächtigt) übernimmt, lautet, alles sei nur eine „Münchner ‚Gaudi‘“, die schnell vorübergehe (54). Im Großen und Ganzen dürfte er mit dieser These, angesichts des krassen Gegensatzes von Stadt und Land und des weitgehenden Fehlens einer „Roten Armee“, nicht falsch liegen. (Als sehr hilfreich bei der Einschätzung der gesamtdeutschen Lage erweist sich der wohltuend neutral gehaltene, auf Information statt Meinung setzende Essay des Historikers Wolfram Wette im Anhang des Bandes.) Die unfreiwillige Komik des Revolutionsgeschehens verkehrt sich freilich am Ende auf doppelte Weise in Tragik: Nicht nur wird die zuletzt von den Spartakisten angeführte Räterepublik von preußischen „Mehrheitssozialisten“ blutig niedergeschlagen, Häuserkampf im Stadtzentrum und Massaker an Unschuldigen eingeschlossen; der vor allem unter den Münchner Studenten – weniger als ein Jahr nach Beendigung des Ersten Weltkriegs, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, der „letzten Tage der Menschheit“ (Karl Kraus)! – grassierende Antijudaismus und Militarismus weist bereits auf das kommende Inferno des Dritten Reiches voraus.

Man kann Klemperers Aufzeichnungen kaum beurteilen, ohne seine weitere Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu betrachten: 1945 tritt er aus der Kirche aus und der Kommunistischen Partei bei; er erhält seine Dresdner Professur zurück und wird schnell Teil der DDR-Elite, baut als Funktionär bis zu seinem Tod 1960 mit am real existierenden Sozialismus. Auch seine Tätigkeit als Chronist seiner Welt, die ihn später berühmt machen wird, führt er fort. Wie passt all das zusammen? Glaubt man dem ausführlichen Lektürebericht des US-amerikanischen Germanisten Peter Demetz, so lebte Klemperer in diesen späten Jahren ein Doppelleben als „SED-Professor und radikaler Skeptiker“ und war „mit sich selbst zerfallen“. Dass er nun plötzlich im Lager der Kommunisten stand, war für ihn, wie er sich offenbar immer wieder selbst zu überzeugen suchte, „das kleinere Übel“ angesichts des faschistoiden Unterbaus im liberalen Teil Nachkriegsdeutschlands. War dies nun das folgerichtige Schicksal eines mit übermäßiger Skepsis, Beobachtungsgabe und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber begabten Denkers, sich nie wirklich zugehörig zu fühlen und so letztlich „zwischen allen Stühlen zu sitzen“ (so der bezeichnende Titel seines letzten Tagebuchbands)? Man wird seine späten, weit über 1000 Seiten umfassenden Aufzeichnungen genau lesen müssen, um eine Antwort und vielleicht ein revidiertes Urteil über das revolutionäre München zu finden.


Mbembe über Fanon und das Erbe des Kolonialismus

Um es einmal vorweg zu sagen: Dieses Buch gleicht einem Aufschrei. Im Bestreben, einer mehr als unterdrückten Identität und Tradition – der der Schwarzen, insbesondere der Leidtragenden des atlantischen Dreieckshandels, a fortiori aber aller Opfer von Kolonialismus, Dekolonisierung und was danach kam – wieder Leben einzuhauchen und Gehör zu verschaffen, nimmt Mbembe in Kauf, dass sein Text unmäßig austreibt, sich sprunghaft fortwälzt und stellenweise von Wut getränkt ist. Im romanesken Stil des französischen Intellektualismus geschrieben, vernachlässigt der Autor wissenschaftliche Standards (zu denen nicht umsonst Beschränkung und sokratische Bescheidenheit gehören), sondern lässt wuchern, evoziert und spekuliert bis hin zum intellektuellen Delirium.

Kolonialismus und die Folgen: Frantz Fanon (1925-1961) analysierte das Erbe einer Politik der Gewalt.

Weite Teile des Buches stellen eine Auseinandersetzung mit Frantz Fanon dar, dem aus Martinique stammenden Denker, Arzt und Psychiater, der anlässlich des Algerienkriegs sein Schicksal mit dem Afrikas verband und mit Die Verdammten dieser Erde eine der Bibeln des Antikolonialismus hinterlassen hat. Was Mbembe von Fanon sagt, dass man nur schwer von ihm und seinem Schreiben unberührt bleiben könne, gilt ohne Zweifel auch von Mbembe selbst: Mit Hilfe einer „bildhaften Sprache, die zwischen Schwindel, Auflösung und Zerstreuung schwankt“, will Mbembe „ins Leben zurückholen, was den Mächten des Todes überantwortet war.“ (20)

Dem entgegen steht die titelgebende „Politik der Feindschaft“, die der Autor in der Welt des 21. Jahrhunderts am Werk sieht; sie bilde die Grundstimmung einer „Globalisierung der Apartheid“ (222), die überall Trennungslinien einziehe und letztlich von dem destruktiven Impuls getrieben sei, „dass man alles, was man nicht selbst ist, für nichts erachtet“ (11). Demgegenüber gehe es um eine neue „Politik des Lebendigen“ (ebd.), die unter Einholung der im Kolonialismus erfahrenen Ausbeutung, Demütigung und Unterdrückung eine neue Weise des Menschseins wenigstens anvisiert.

Wie könnte eine neue Art der Politik aussehen?

Soweit das anspruchsvolle, grundstürzende Programm. In weiten Teilen deckt sich Mbembes Analyse dabei mit der Diagnose der „Externalisierungsgesellschaft“ des Münchner Soziologen Stephan Lessenich – nur dass der Kameruner Historiker und Philosoph gleichsam umgekehrt von der kapitalistischen Peripherie Richtung Zentrum blickt und natürlich ganz andere Prämissen und geistige Bestände mobilisiert. Trotzdem, die Ähnlichkeit der Aussagen ist frappierend: „Die Geschichte der modernen Demokratie hat zwei Gesichter oder zwei Seiten – eine Tag- und eine Nachtseite.“ (46) Und, schlimmer noch: „Demokratie, Plantage und Kolonialreich gehören objektiv ein und derselben geschichtlichen Matrix an. Diese ursprüngliche und  strukturierende Tat bildet den Kern jedes historischen Verständnisses der heutigen Weltordnung.“ (48) Kolonialkriege seien totale Kriege fernab jeder Öffentlichkeit gewesen, in denen sich Grausamkeit und Zerstörungswille ungehindert Bahn brechen konnten. Wenn wir also meinen, dass es uns nichts anginge, „wenn weit hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlagen“ (Goethe), so sind wir offenbar im Irrtum, denn: „Früher oder später wird man in der Heimat ernten, was man in der Ferne gesät hat.“ (77)

Gesät hat man Mbembe zufolge vor allem Gewalt, die aufgrund der weiter wachsenden demographischen Übermacht des Südens als Welle über den kriselnden Wohlstandsgesellschaften des Westens zusammenzuschlagen drohe. Folgerichtig habe man sich abzuwenden von den heiligen Kühen der Aufklärung, die kaum mehr als Mythen und Ideologien seien. Eine „Dekonstruktion der heutigen Welt“ – die Stimme des Algerienfranzosen Derrida ist kaum zu überhören – müsse sich in letzter Konsequenz gegen jedweden „abstrakten Universalismus“ wenden (23), um die diesem Denken (das Mbembe auch mit der christlichen Seinsmetaphysik in Zusammenhang bringt) angeblich inhärente Fixierung auf einen Feind und seine Vernichtung zu durchbrechen.

Das Lager als Signum der Moderne

Kritisch ist anzumerken, dass der Autor immer wieder solch spekulative Gedankenfiguren bemüht, ohne sie ausreichend zu erläutern; auch die vielen, vielen in den Fußnoten zitierten Quellen können dieses Eindruck nicht lindern. – Mit Agamben sieht Mbembe das Lager als Signum der Moderne, dessen Genese und Entwicklung er historisch aufschlussreich darlegt. Seine Ursprünge sieht er, neuere Forschungsergebnisse zitierend, in verschiedenen Kolonialreichen zwischen 1896 und 1907 angelegt und kommt zu dem kontroversen Urteil: „Die Logik des Konzentrationslagers gab es schon lange vor deren Systematisierung und Radikalisierung durch das Dritte Reich.“ (134f.)

Gegen die in diesen Räumen und Herrschaftsstrukturen ausgeübte Gewalt, die Wunden gerissen habe, die „niemals“ heilen und „deren Spuren [man] niemals los“ wird (173), helfe ausschließlich – hier folgt Mbembe Fanon – eine „regenerierende Gewalt“ als „Werkzeug der Wiederauferstehung“ (142). Spätestens jedoch, wenn Mbembe solchen Ausführungen spekulativ-psychologische Gedanken über die Erotik des Rassismus beimischt, um die Kritik am Eurozentrismus zu einer am Phallozentrismus zu erweitern, droht er den Leser dahingehend zu verlieren, dass dieser entweder belustigt weiterblättert oder sich genervt abwendet.

Wie nun kann sich die Menschheit – denn um nichts weniger geht es Mbembe – vom „Mythos des Negers“ (157) befreien und einem neuen Zeitalter jenseits des Neoliberalismus entgegengehen? Wiederum geht es um eine doppelte Bewegung: Auf der einen Seite muss die verdrängte Geschichte der Schwarzen in ihrer „Globalität, Vielfalt und Vielsprachigkeit“ (191) angeeignet und der Menschheit neu zugeeignet werden; auf der anderen Seite ist das überkommene Denken des weißen Mannes von seinen toten Masken zu entkleiden. Eine davon ist unerfreulicherweise der Humanismus; denn er gehöre zu jener geschichtlichen Formation, die den Neger dazu gezwungen habe, „das Schicksal des Objekts und des Werkzeugs zu teilen“ (194).

Gleichheit aus Verwundbarkeit und die Ethik des Passanten

Also: Tabula rasa! Alles muss also von Grund auf neu gedacht und gemacht werden. Hier kommt der Afrofuturismus ins Spiel, der den Neger zur Kippfigur macht, indem er vom gebrandmarkten Opfer zur Matrix des Neuen erklärt wird: Seine „fundamentale Entfremdbarkeit“ (200) berge den Gedanken und die Möglichkeit „eines unbeschränkten Veränderungspotenzials und einer nahezu grenzenlosen Formbarkeit“ (195). So experimentell der Afrofuturismus als Mischung aus afrikanischen Traditionen, Technologie und magischem Denken daherkommt, so sehr besinnt sich Mbembe in Sachen Ethik auf Bewährtes: Ähnlich wie Richard Rorty sieht er das Verbindende aller Menschen in ihrer „Verwundbarkeit“, in ihrer körperlichen Ausgesetztheit dem Anderen und der Vergänglichkeit gegenüber. Daraus leiten sich im Fahrwasser Schopenhauers Forderungen nach „Pflege“ und „Fürsorge“ ab, die letztlich zur Anerkennung von Verschiedenheit unter Gleichen führen. (214)

Unter dem Eindruck aktueller Tendenzen, die Mbembe holzschnittartig und mit ständigem Bezug auf globale Intellektuelle anregend referiert, geht der Autor über den Ansatz einer Anerkennung im Medium der geteilten Versehrbarkeit noch hinaus. Im Angesicht der drohenden Heraufkunft des „neuroökomischen Menschen“, der von der Sehnsucht geprägt sei, „zum Objekt zu werden“ (217), gehe „das tragische Subjekt der Psychoanalyse und der politischen Philosophie“ verloren – und mit ihm jeglicher Zukunftshorizont im Zeichen von Dialektik und Versöhnung. Was jetzt noch bleibt, ist eine „Ethik des Passanten“: Diesem sei aufgetragen, sich „von allem oder fast allem zu lösen, auf alles oder fast alles zu verzichten“ (229) und zu „lernen, ständig von einem Ort zum anderen zu wechseln, denn das ist letztlich seine Bestimmung.“ (232)

Inwieweit man es hier, bei aller Sympathie, mit mehr zu tun hat als mit der Wiederbelebung eines elitären Kosmopolitismus, bleibt – wie so vieles in diesem Buch – offen. So schwer sich die Inhalte des Essays überhaupt referieren lassen, so verfehlt wäre es m.E., darin dieses oder jenes Einzelne zu kritisieren. Das Schlusswort gebührt darum Augustinus: „Nimm und lies!“

Achille Mbembe, Politik der Feindschaft, a. d. Frz. v. Michael Bischoff, Berlin: Suhrkamp 2017, 235 S.

Badiou über Trump und die Folgen

Trump ist im Amt – noch immer. Seit nunmehr über einem Jahr dilettiert der Mann an der Spitze des mächtigsten Landes der Welt munter vor sich hin. Erreicht hat er freilich nicht viel, auch weil sich mutige Männer und Frauen ihm immer wieder entgegengestellt haben. Selbst die Macht der Medien, die jeden Fauxpas genüsslich kommentieren und skandalisieren, ist offenbar nicht groß genug, um den Usurpator aus der Wirtschaft zu Fall zu bringen. Und so gehen sie weiter, die Fehltritte und Beleidigungen, begleitet von Wellen der Entsolidarisierung auf landes- und geopolitischer Ebene.

Reißt weiter das Maul und gesellschaftliche Gräben auf: Wie lange noch, Trumpo? | © Gage Skidmore [CC BY-SA 3.0]

Schon zwei Tage nach der Wahl hat Alain Badiou an der University of California versucht, das Ereignis politisch-philosophisch in Worte zu fassen. Die Art der Ansprache lässt erahnen, welchen Schock die Wahl Trumps gerade bei politischen Gegnern auslöste: Badiou schlägt einen geradezu priesterlichen Ton an, um die aufgewühlte Gemeinde zu beruhigen und ihr durch seine Deutungen Halt und Richtung zu geben. Mit Trump sei der »Schrecken« (9) über uns gekommen, seine Wahl stelle den vorläufigen Höhepunkt einer kapitalistischen Entwicklung dar, die sich in Kataklysmen katastrophisch aufeinanderschichtet: »Durch ernste Krisen, falsche Versprechungen und ungeeignete ›Lösungen‹ erzeugen die Regierungen in ihren Bevölkerungen im großen Maße Frustrationen, Verständnislosigkeit, Angst und blinde Revolten.« (16)

Ohne Lösung der Eigentumsfrage kein Ende des Kapitalismus

Der ganze politisch-mediale Komplex mit seinen »sehr feinen Unterschieden«, die aber im Großen und Ganzen nichts zum Positiven verändern, »desorientiert« im Wesentlichen die Menschen. Eine Folge davon sei das Aufkommen eines »demokratischen Faschismus«, deren extremstes Beispiel eben dieser Trump sei – mitnichten jedoch etwas Neues, sondern eine »externe Interiorität«, die neben Sekundäruntugenden wie Nationalismus, Sexismus und Rassismus vor allem die »Propaganda des Privateigentums« weitertreibe. (16-19)

Zurecht erinnert Badiou an die Eigentumsfrage, die »das Herzstück des Marxismus« (14) bilde, der einmal, nach einem Wort von Sartre, »der unüberschreitbare Horizont unserer Kultur« gewesen sei. Die fortschreitende Kapitalkonzentration in den Händen weniger zeige die ungebrochene Richtigkeit dieser Theorie und müsse zum Anlass einer Wiederbelebung von Dialektik und Politik werden. Badiou sieht die Wirklichkeit von vier großen Tatsachen bestimmt: dem Sieg des globalen Kapitalismus, dem Zerfall der traditionellen bürgerlichen Oligarchie, der Verunsicherung und Frustration vieler Menschen und dem Fehlen einer Idee, die revolutionäre Potentiale binden könnte.

Der wahre Widerspruch der zurückliegenden US-Wahl sei nicht der zwischen Trump und Clinton gewesen, die beide Mitglied der globalen kapitalistischen Oligarchie seien, sondern zwischen Trump und Bernie Sanders, der zumindest in Ansätzen etwas formuliert habe, was sich jenseits des global-kapitalistischen Konsenses stellt – für Badiou freilich höchstens ein Anfang und nicht radikal genug.

Die neue Vierteilung des politischen Spektrums

Zwei Wochen nach der Wahl – Badiou ist mittlerweile in Boston an der Tufts University – hat sich der Ton gewandelt. Es geht nun ausdrücklich um »philosophische« Überlegungen; Trump sei zwar »eine interessante Tatsache«, man dürfe ihn aber keinesfalls überbewerten, denn er sei hauptsächlich ein Symptom, »etwas Undurchsichtiges und nicht wirklich Interessantes« (29). Viele Punkte aus der ersten Vorlesung werden wiederholt; neu ist vor allem eine Analyse des politischen Spektrums der demokratischen Staaten, das sich von einer Zwei- zu einer Vierteilung bewege: Trumps Sieg sei vor allem deshalb möglich gewesen, weil er sich weiter außen, d.h. auf der Grenze von Demokratismus und Extremismus bewege. Schaut man sich Frankreich (Melenchon, die Sozialisten, Macron, Le Pen) und Deutschland (LINKE, SPD/Grüne, CDU/CSU, AfD) an, scheint diese Analyse zutreffend; leider spricht Badiou an dieser Stelle nicht systematisch über die Parteien bzw. die politische Situation einzelner Länder.

Als Philosoph kommt es ihm vor allem darauf an, eine wirkliche Alternative zu formulieren, eine Idee, die sich in einer Bewegung materialisieren könnte. In Anlehnung an das berühmte Diktum von Marx, dass die Idee zur materiellen Gewalt werde, wenn sie die Massen ergreift, formuliert Badiou: »Eine Idee ist die Möglichkeit einer Bewegung, die sehr verschiedene Subjekte vereint.« (48) Wie aber lauten ihre Bestimmungen? Es sind die Inhalte des – von heute aus gesehen – utopischen Kommunismus, die unerreicht am Horizont aufleuchten: Eindämmung des Privateigentums; Überwindung des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit; Gleichheit als Dialektik der Differenz, Unterschiede als Ausdruck von Gemeinsamkeit und die Infragestellung des Staats als Machtapparat zugunsten freier Assoziationen.

»Etwas erschaffen, das jenseits des Systems liegt«

Entsprechend lang ist der Weg, um von hier nach dort zu kommen. »Aus dem bestehenden System heraus kann keine Perspektive für etwas Neues entwickelt werden. Deswegen müssen wir etwas erschaffen, das jenseits des Systems liegt.« (53) Hier ist man versucht, systemtheoretisch informiert gegenzufragen: Wie anschlussfähig ist das Ganze? Zumindest eine Ahnung davon vermitteln die vier den schmalen Band abschließenden Fragen aus dem Publikum, eine m.E. gelungene verlegerische Entscheidung: Wie reagiert der gebildete, eher linke Amerikaner, der an diesem Tag in die Tufts University gekommen ist, auf Badious Vortrag? (Das hohe Bildungs- und Reflexionsniveau der Fragen legt allerdings nahe, dass es sich möglicherweise um Professoren handelt.)

Gleich die erste Frage nach der konkreten politischen Organisation der kommenden Bewegung lockt Badiou aus der Reserve: In einem langen Exkurs zu Lenin und zur Geschichte der kommunistischen Parteien macht er die Schwierigkeiten deutlich, Staatsorganisation und die Ideen der Bewegung zur Deckung zu bringen; allen Ernstes empfiehlt er »eine Diktatur des Volkes über den Staat« (59) – wo kommt plötzlich die Kategorie des Volkes her? –, die eben die ursprünglichen Ziele der Bewegung nicht verraten dürfe, wie es in der Sowjetunion, in China und anderswo geschehen sei. Mach’s noch einmal, Alain, nach Millionen und Abermillionen von Menschenopfern?

Von den insgesamt vier Fragen liefert vor allem die dritte weitere Aufschlüsse: Gegenüber dem Einwand, Trump sei vor allem ein Gegner des Freihandels und Vertreter eines neuen »ökomischen Nationalismus«, betont Badiou m.E. zurecht, dass das Hauptproblem doch sei, dass die Politik die Kontrolle über die globalen Geldströme verloren habe und daran auch Trump, diese »widersprüchliche« Figur, nichts ändern werde. Anschließend erlaubt sich Badiou die etwas chiliastisch anmutende Zuspitzung, dass nach der vollständigen Expansion des Kapitalismus nur noch zwei Möglichkeiten bestünden: der Übergang zum Kommunismus oder ein Rückfall in die Barbarei, letztere in Form von »Atomkrieg« (66), zum Beispiel im imperialistischen Kampf um den Einfluss in Afrika.

Fazit: Ein gerade mit etwas zeitlichem Abstand lesenswerter Band, der anschaulich macht, welche Zeitenwende der Polit-GAU namens Trump bedeutet und welche dahinterliegenden Problem- und Motivationslagen politisch-philosophisch in Betracht gezogen werden müssen. Befremdlich wirkt Badious offenbare oder uneingestandene Nähe zum Leninismus, der man höchstens zugutehalten kann, aus welcher unendlich unterlegenen Position er mit seiner Theorie zu operieren versucht. Der unnachgiebige Impuls, sich mit dem überall lauernden Konsens des falschen Lebens nicht gemein zu machen und der übermächtigen Realität zum Trotz auf einen utopischen Kommunismus zu setzen und zu hoffen, darf dagegen durchaus Bewunderung hervorrufen.

Alain Badiou: Trump. Amerikas Wahl, Wien: Passagen-Verlag 2017, 72 S.

Containment. Meditationen über Macht

Einem berühmten Ausspruch Maos zufolge kommt die politische Macht aus den Gewehrläufen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. In diesem Sommer hat die linksextreme FARC in Kolumbien nach mehr als einem halben Jahrhundert dem bewaffneten Kampf abgeschworen – das Ende einer Ära? Der Konflikt zwischen dem bis auf Weiteres siegreichen Liberalismus und dem sozialrevolutionären Marxismus scheint entschieden; und verglichen mit diesem welthistorischen Drama wirkt selbst der Faschismus wie eine – freilich alptraumhafte – Episode.

Sommer 2017, Hamburg im Ausnahmezustand: Wenn „Autonome“ auf den Staatsapparat treffen, inwieweit handelt es sich um eine Machtprobe?

Es war Foucault, der im Fahrwasser Nietzsches nach den Wandlungen der Macht fragte und dabei auf die „Disziplin“ stieß: diese Weise, Körper zu formen und zu lenken, im Raum und in der Zeit anzuordnen und so beherrschbar zu machen. Der Sieg des Lebens über den Tod im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert rufe neue Formen der Herrschaft auf den Plan, die sogenannte „Bio-Macht“: Die alten Souveränitätsgesellschaften werden nach und nach abgelöst von Disziplinargesellschaften; „leben machen statt sterben machen“ lautet nun die Devise – im neuen Regime der Körper werden Fähigkeiten gesteigert, Dressuren eingeübt und Arbeitsabläufe wirksam zusammengesetzt. Während in der Vormoderne sich die letale Gewalt des Staates in der öffentlichen Hinrichtung wirkungsvoll manifestierte, ist die moderne Machtform gekennzeichnet durch „Einschließungsmilieus“ (Gilles Deleuze), in denen humanwissenschaftlich erforschtes Normverhalten durch „Überwachen und Strafen“ den Subjekten inkorporiert wird.

Das Leben im Büro als Hindernislauf ohne Happy-End

Deleuze war es auch, der im „Postskriptum über Kontrollgesellschaften“ (1990) über Foucault hinausging und das Aufkommen einer neuen, wenn man so will postmodernen Machtform diagnostizierte: Noch vor dem Siegeszug des World Wide Web sah er mit Paul Virilio die neuen „ultraschnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“ sich entfalten, die seit den Enthüllungen durch Edward Snowden zur traurigen Gewissheit geworden sind. Hinzukommt die Verabsolutierung des unternehmerischen Denkens, das mit der Heilslehre des New Public Management und den „Freuden des Marketings“ (Deleuze) ein umfassendes Daseinsregime ins Werk setzt, in das der postmoderne Mensch unmerklich eingewoben ist: Zwischen Vermarktungszielen, Leistungskennzahlen, Reportpflichten und Wettbewerbsrücksichten wird das „Leben im Büro“ (Christoph Bartmann) zum Hindernislauf ohne Happy-End und zur Odyssee ohne Wiederkehr, die die investierte Spontaneität sorgsam verbrauchen und von Infragestellungen inhaltlicher Art ebenso sorgsam abführen.

Angesichts der Gewalteskalation beim jüngsten G20-Gipfel stellt sich die Frage: Wo beginnen? Wen angreifen? Leben wir tatsächlich in einem global angelegten „Wirtschaftsfeudalismus“ (Sarah Wagenknecht), einem Amalgam aus Großkonzernen und bürgerlichen Regierungen, das von einigen wenigen aus dem Off dirigiert wird? So sieht es etwa auch der Philosoph Alain Badiou, der vier Gruppen identifiziert, von denen noch revolutionäres Potential auf globaler Ebene ausgeht: 1. Das nomadische Proletariat – Heimatlose aller Länder, die auf der Suche nach Arbeit umherziehen, egal ob in Afrika, Europa, oder China; 2. Teile der Mittelklasse, die sich wirtschaftlich bedroht fühlen und gegen populistische Einflüsse immun sind; 3. Ein Teil der Jugend, der für die kommunistische Hypothese empfänglich ist; 4. Intellektuelle, die die Bewegung anführen könnten.

Von einer Bewegung ist aber, jedenfalls in Deutschland, wo da hohe Wohlstandsniveau als verlässliches Sedativum wirkt, nichts in Sicht, auch das hat G20 eindrucksvoll gezeigt: Auf der einen Seite die unzufriedenen, aber passiven Bürger, auf der anderen die gewaltbereiten, aber nicht anschlussfähigen „Autonomen“. Neu ist höchstens, dass bis weit in die bürgerliche Mitte hinein zum Ungehorsam und zu alternativen Organisationsformen aufgerufen wird (zuletzt zum Beispiel der Philosoph Dieter Thomä: „Jetzt reicht‘s“, in der ZEIT). Auch bei der Documenta, einer Veranstaltung der bürgerlichen Mitte (mit Catering im Stil von Industriemessen), glaubt man sich auf der Seite der Gegen-Macht: Im Glossar der Documenta-Sonderausgabe der Zeitschrift Weltkunst heißt es über „Macht“, ich zitiere:

„Die dunkle Seite der Welt, die unseren Planeten nachhaltig verfinstert. Neokoloniale, patriarchale und heteronormative Ordnung, getragen von einem komplexen Netzwerk aus politischen und militärischen Kräften, die global die Zwecke des Finanzkapitalismus aufrechterhalten und zugleich das alte, nicht mehr haltbare Konzept einer Welt aus souveränen Nationalstaaten fortsetzen. Ihr Endziel ist Kontrolle über jeden Einzelnen, ihr wirksamstes Instrument ist die Angst.“

Abgesehen vom bizarren ersten Satz mit seiner Mischung aus Star-Wars-Rhetorik und allerabgegriffenstem Marketing-Sprech, was ist von dieser Beschreibung der Wirklichkeit zu halten? Klar ist, so neuerdings Pankaj Mishra (ähnlich bereits Deleuze): „Der globale Bürgerkrieg steckt tief in uns selbst; seine Maginot-Linie läuft quer durch unser Herz und unsere Seele.“

Ich bin, der ich bin: Der Imperativ der Vereinzelung

Obwohl es oft betont wurde, man muss es bekräftigen: Die neue, postmoderne Machtform aktiviert, statt zu beschneiden; sie bindet ein und schließt aus, ihre institutionellen Relais schalten zuverlässig je nach Anpassungsfähigkeit des Einzelnen. Obwohl die Macht nicht unsichtbar ist, lernt sie vor allem kennen, wer sich dagegen auflehnt. Gleichzeitig fordert sie jedoch dazu auf, sich zu zeigen, Einfluss zu nehmen, sich zu vernetzen und in der Hierarchie aufzusteigen – also jenes Netzwerk, von dem oben die Rede war, mitzutragen.

Vom anarchistischen „Unsichtbaren Komitee“ bis zum früh verstorbenen Frank Schirrmacher sind kreative Gegengeister sich einig: Das permanent produktive, sich selbst ausstellende, öffentliche Normen verwandelnd sich aneignende und sie dadurch bekräftigende Ich ist der Kulminationspunkt des „Systems“, in dem Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung zusammenfallen. „I AM WHAT I AM. Niemals hat Herrschaft eine über jeden Verdacht erhabenere Losung gefunden.“

Wie könnte die Opposition gegen eine solche Machtform aussehen?

Terrorismus ist keine Lösung, nicht nur aus feingeistigem oder moralischem Gewaltverzicht heraus – er ist kontraproduktiv, denn der postmodernen Hydra wachsen für jeden abgeschlagenen Kopf drei neue; der Tod kommt krass, doch der unschuldige Einzelne bedeutet dem utilitaristischen, an Statistik und Infrastruktur glaubenden System nichts; und letztere ist schnell repariert, der Schaden geflickt, die Störung behoben; das World Trade Center erstrahlt heute in härterem Glanz als ein Vierteljahrhundert zuvor. Im Gegenteil, der Terrorismus führt zu weiterem Freiheitsverlust und umfassenderer Kontrolle, denn die Nadelstiche reizen die Resistenz des Systems und provozieren Präventivmaßnahmen.

Auch der Spiritualismus hat es schwer, weil er, ebenso wie die Kunst übrigens, auf den medialen Komplex angewiesen ist, um sich zu bekannt zu machen und zu verbreiten – so wird er zur nächsten Sau gemacht, die durchs global village getrieben wird, das nach Neuigkeiten sich verzehrt. Man könnte die These wagen, dass Paulus, hätte es den heutigen politisch-medialen Komplex damals schon gegeben, keine Chance gehabt hätte mit seinem against all odds Furore machenden Christentum.

Bleibt nur der Moralismus, der bekanntlich ein „imaginärer Souveränismus“ (Peter Sloterdijk) ist: Der Denker zieht sich auf sich selbst und den unmittelbaren Kreis moralischer Gewissheit zurück, um vom Elfenbeinturm der höheren Werte aus seiner Gegenwart den geistigen Bankrott zu demonstrieren. Roger Willemsen hat das in Wer wir waren exemplarisch und beeindruckend vorgeführt, indem er aus der Perspektive zukünftiger Historiker den Kleinmut, die Perspektivlosigkeit und den Nihilismus des Westens sezierte.

Wenn Sie noch eine Idee haben, ich bin noch eine Weile in der Gegend.

Badiou über Wege aus der Weltkrise

Im sechsten Band einer 2012 begonnenen Gesprächsreihe nehmen Alain Badiou und sein Verleger Peter Engelmann unter dem Eindruck aktueller Ereignisse (Kriege, Migrationsbewegungen, Trump) die Diskussion um eine Alternative zum Kapitalismus wieder auf. Der schmale Band besteht aus zwei Gesprächen, die an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Dezember 2016 in Zürich geführt wurden, und einem kurzen Dialog im Anhang, der auf die Wahl Trumps zum Präsidenten der USA reagiert.

Nur vorwärts, nicht zurück: Alain Badiou gibt die Hoffnung auf eine Überwindung des Kapitalismus nicht auf. | © Keffieh67 / CC BY-SA 3.0

Badious theoretisches Bemühen ist insofern philosophisch zu nennen, als er zunächst einen Punkt zu erreichen sucht, von dem aus sich die bisherige Entwicklung überblicken lässt: „Da heute der Kapitalismus siegreich ist – und das ist eine Tatsache –, muss man zunächst die Idee und das Bewusstsein der Notwendigkeit, dass etwas anderes wirklich möglich ist, wiederherstellen, und zwar von Grund auf.“ (34) Gegenüber Engelmann, der den Begriff Kommunismus als historisch belastet ablehnt, will Badiou an ihm festhalten, um den Bruch zu markieren, der mit einer nichtkapitalistischen Reorganisation der Gesellschaft im globalen Maßstab verbunden wäre.

Auf der Suche nach einer nichtkapitalistischen Modernität

Der Rückblick ins 20. Jahrhundert zeigt jedoch für Badiou, dass etwa im Zeitraum von 1930 bis 1980 die „natürliche Entwicklung [sic!]“ (20) des Kapitalismus geschwächt war bzw. gebremst wurde. Die gescheiterten Experimente des real existierenden Sozialismus seien in ihrer Anlage und ihrem Scheitern noch nicht genügend aufgearbeitet – und sie hätten sich nicht nur ökonomisch nicht gegen den Kapitalismus behaupten können, sondern auch kulturell; geradezu „reaktionär“ (38) seien sie gewesen, während die kapitalistische Moderne sich durch den Widerspruch wachsender persönlicher Freiheit auf der einen und struktureller Ausbeutung auf der anderen Seite behauptet und ausgezeichnet habe.

Man müsse darum „eine Modernität erfinden, die mit etwas anderem kompatibel sein kann als mit dem Kapitalismus“ (37); es bestehe, anders als der „demokratische Diskurs“ suggeriere, den Badiou auch bei Engelmann am Werk sieht, keine Denknotwendigkeit einer Verbindung zivilisatorischer Errungenschaften mit dem Kapitalismus . Wer könnte jedoch die tragende Kraft dieser neuen Politik der Modernität sein? Badiou identifiziert vier Kräfte mit revolutionärem Potential auf globaler Ebene: 1. Das nomadische Proletariat – Heimatlose aller Länder, die auf der Suche nach Arbeit umherziehen, egal ob in Afrika, Europa, oder China; 2. Teile der Mittelklasse (z.B. Arbeiter), die sich wirtschaftlich bedroht fühlen und gegen liberale und populistische Einflüsse immun sind; 3. Teile der Jugend, die für die kommunistische Hypothese empfänglich sind: „Sie sehnt sich im Grunde danach, eine Modernität zu erfinden, die nicht verbrecherisch ist.“ (52); 4. Intellektuelle, die die Bewegung anführen könnten.

Neue Organisationsformen – jenseits von Hierarchie und Autoritarismus

Badiou denkt anschließend vor allem darüber nach, welche Organisationsform eine solche Bewegung annehmen könnte und kommt zu dem Schluss, dass sie – im Gegensatz zu den quasimilitärisch organisierten kommunistischen Parteien alten Stils – eher „biologisch“ und „kapillar“ (56) sein sollte, d.h. aus verteilten Gruppen bestehen, die relativ unabhängig voneinander agieren. Schließlich müsse man sich auch vom hegelianischen Element der produktiven Negativität verabschieden: Der neue Kommunismus werde nicht erst zerstören, um aufzubauen, sondern vor allem schöpferisch sein.

Im zweiten Gespräch wenden sich Engelmann und Badiou der Geopolitik und ökonomischen Globalisierung im engeren Sinne zu. Der französische Philosoph sieht einen Imperialismus des 21. Jahrhunderts am Werk, in dem staatliche und nichtstaatliche Akteure um Einflusssphären und Bodenschätze z.B. in Afrika konkurrieren. Dabei komme es in vielen Regionen der Welt zu einer Destabilisierung von Staaten („Zonierung“, 65), die zwar theoretisch im Sinne des Kommunismus (Absterben des Staates) wäre, einstweilen aber nur Leid und Zerstörung für die dort lebenden Menschen zur Folge hat: „Wenn der Staat nicht vorhanden ist, ist das Volk dem Schlimmsten ausgeliefert.“ (68)

Der sogenannte islamistische Terrorismus, der sich in solchen staatenlosen Räumen festsetzt, ist für Badiou in erheblichem Maße das Produkt westlicher Propaganda – nicht der Islam sei das Problem, sondern dass man es mit einer neofaschistischen Bewegung zu tun habe, die noch dazu als Akteur auf dem Weltmarkt auftritt, und die deshalb zwar antimodernistisch, aber nicht antikapitalistisch sei. Das wiederum verbinde sie mit anderen rechtsgerichteten, d.h. populistischen und nationalistischen Bewegungen: es sei eine Art „immanenter Widerstand“, der jedoch „keinen Gegenentwurf anzubieten habe“ (84). Badiou geht allerdings einen Schritt zu weit, wenn er behauptet: „Der islamistische Terrorismus, Polen, Ungarn, Donald Trump, Le Pen – sie alle gehören zum gleich Lager!“ (ebd.)

Die Ökonomie als Ganzes muss überwunden werden

Wie würde nun die kommunistische Alternative auf globaler Ebene aussehen? Badious Einlassungen hierzu wirken allzu bekannt und eher hohl; von „Gemeinwohl“ ist die Rede und das der Weltmarkt durch eine „Verwaltung auf globaler Ebene“ (90) ersetzt werden müsse – dass das verdächtig nach der gescheiterten Planwirtschaft klingt, bemerkt auch Gesprächspartner Peter Engelmann. Man muss Badiou jedoch zugutehalten, dass er das Problem auf eine sehr abstrakte Ebene hebt: Demnach sei die Überwindung der Ökonomie – die sprachliche Nähe zur „Aufhebung der Ökonomie“ bei Georges Bataille, der freilich anderes im Sinn hatte, ist bemerkenswert – eine Aufgabe, die bisher nicht annähernd gelöst wurde, weil sie gar nicht als Aufgabe begriffen und gestellt wurde. Anders als etwa Marx selbst, der der Überzeugung war, die grundsätzlichen Probleme gelöst zu haben, setzt Badiou also auf eine gewisse theoretische Offenheit bei der Suche nach einer Alternative zum Weltmarkt.

Auf den wiederum berechtigten Einwand Engelmanns, Ansätze zu globaler Solidarität seien kaum zu erkennen, antwortet Badiou mit einer Analyse der politischen Situation insbesondere der Linken, die sich nach der Wahl Trumps weiter verschärft hat. Demnach haben die Kulturalisierung und Intellektualisierung der Linken ihre Entfremdung vom Arbeitermilieu bewirkt – Ähnliches kann man z.B. auch bei Didier Eribon lesen: „Die einzige politische Kraft, die heute im politischen Diskurs das Wort ‚Arbeiter‘ in den Mund nimmt, ist die extreme Rechte. Solche Kategorien sind bei der Linken vollkommen verschwunden.“ (110)

Was also tun? Badious Vorschläge erschöpfen sich leider zu einem großen Teil in vagen Andeutungen, gängigen Sprachspielen und unbestimmten Hoffnungen. Auf der einen Seite beeindruckt das Abstraktionsniveau der Theorie, das es erlaubt, Kapitalismus als endliche und damit überwindbare gesellschaftliche Einrichtung fassbar zu machen; auf der anderen Seite folgt daraus eine gewisse Oberflächlichkeit, die außerdem überall Faschismen am Werk sieht, die es zu bekämpfen und abzuwehren gelte. Dem Widerspruch der Linken, dass sie zum einen als Teil der Establishments gilt, zum anderen sich mit ihren radikalen Forderungen als zu wenig anschlussfähig erweist, kann sich auch Badiou – zumindest im vorliegenden Band – nicht entziehen.

Alain Badiou: Für eine Politik des Gemeinwohls. Im Gespräch mit Peter Engelmann (= Passagen Gespräche 6), Wien: Passagen 2017, 120 S.

Der Kapitalismus-Patch

Sahra Wagenknecht, Galionsfigur der Linken in Deutschland, gern gesehener Talkshow-Gast und ehemaliges Mitglied der (stalinistischen) »Kommunistischen Plattform«, hat im Mai 2016 ihr bisher letztes Buch vorgelegt, in dem die Frage des Eigentums eine wichtige Rolle spielt. Der reißerische Verlagstitel »Reichtum ohne Gier« – besser wäre sicher »Wohlstand ohne Gier« gewesen – findet eine gewisse Fortsetzung in der Textgestalt: Im Stile eines journalistischen Pamphlets sind auf jeder Seite ein bis zwei häufig zugespitzte Zwischentitel zu finden. Abgesehen von solchen Äußerlichkeiten liegt jedoch ein materialreiches, klar durchdachtes Buch vor, das Ernst macht mit der Vorstellung einer wirklich sozialen, d.h. stark am Gemeinwohl orientierten Marktwirtschaft.

Weitblick und denkerische Konsequenz: Wagenknechts aktuelles Buch überzeugt. | © xtranews.de

Ein zentraler Gedanke von Wagenknechts Vorschlag ist die Auffassung, es gebe nicht zu viel Wettbewerb, sondern zu wenig – weil moderne Märkte zur Schließung neigen und sich so Oligopole ausbilden, die dann ihrerseits Druck auf die Politik ausüben. Um also die Pathologien des »Wirtschaftsfeudalismus des 21. Jahrhunderts« (17) zu überwinden, müssen die Eigentumsverhältnisse neu justiert werden: Die schon sprichwörtliche »GmbH« (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) sei einer der Stützpfeiler des Kapitalismus, weil sie es ermöglicht habe und weiter ermögliche, unbegrenzte Gewinne mit begrenztem Risiko zu erwirtschaften. Deshalb sei sie »von allen konsequenten Marktwirtschaftlern von Adam Smith bis Walter Eucken abgelehnt« worden (257).

Gegen die leistungslose Oberklasse hülfe eine Erbrechtsreform

Anders als im gängigen Sozialismus geht es also nicht darum, das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu verstaatlichen, sondern seine Anhäufung rückzubinden an die Gesellschaft: »In einer veränderten Gestaltung des wirtschaftlichen Eigentums liegt folgerichtig der Schlüssel zu einer neuen Perspektive.« (23) Einstweilen leben wir jedoch im Kapitalismus, dessen Kennzeichen es neben dem renditegeleiteten Blick auf Arbeit sei, eine leistungslose Oberklasse hervorzubringen, die allein von Vermögen und Investitionen lebt. Um diese »patrimoniale Gesellschaft« (Thomas Piketty) zu überwinden, müsse vor allem das Erbrecht reformiert werden: Jeder solle nur so viel vererben dürfen, wie man innerhalb eines Lebens mit ›normaler‹ Arbeit verdienen könne (von Wagenknecht auf ca. eine Million Euro taxiert). Dies mache der Kapitalkonzentration in  wenigen Konzernen ein Ende und entzöge somit einem Hauptmotor der wachsenden Ungleichheit den Boden.

Eine Stärke von Wagenknechts Argumentation ist, dass sie immer wieder Zustimmung von unerwarteter Seite organisiert: So wird neben Papst Franziskus (»diese Wirtschaft tötet«) z.B. auch der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter mit der Aussage zitiert, wir lebten in einer »Oligarchie mit unbegrenzter politischer Korruption« (115). Zweiter überzeugender Grundzug des Wagenknechtschen Denkens ist die Art und Weise, wie sie dem herrschenden Diskurs den Spiegel vorhält und damit das Festgefahrene und Ideologische erfahrbar macht: Statt Leistung und Wettbewerb herrschten in vielen Bereichen Stagnation und »fake technologies« (125); Gründer mit guten Ideen hätten dagegen große Probleme, überhaupt an Kapital zu gelangen und sich gegen die Marktmacht der Etablierten zu behaupten.

Intakter Fortschrittsglaube: Mehr Wettbewerb statt weniger

An den Sound dieses neuen Sozialismus muss man sich freilich erst gewöhnen: Die Rede ist von »guten Produkten«, »Innovation« und sogar von »hidden champions«, die im deutschen Mittelstand, was ja auch stimmt, besonders häufig zu finden seien. Alles Alternative, Lebensreformerische geht der promovierten Volkswirtin mittlerweile gründlich ab. Vom ›künstlichen Bedürfnis‹ ist nirgends die Rede, und vom utopischen Kommunismus (morgens jagen, nachmittags fischen usw.) ist nur noch die romantische Idee einer schrittweisen Verkürzung der Arbeitszeit übrig, die es erlaubte, öfter auf der Wiese zu liegen und »dem Brummen einer dicken Hummel« zuzuhören (181). Noch gründlicher sagt sich Wagenknecht vom Universalismus und Internationalismus der traditionellen Linken los: Das Stichwort des Tages laute, mit Keynes, »Verkleinerung« (27), was neben politischen Institutionen vor allem für den Finanzsektor, aber auch die Wirtschaft insgesamt gelte (»kleinste technologisch sinnvolle Größe« für Unternehmen, 284).

Gerade im Verhältnis zur EU kommt – worauf auch Peter Schwarz auf der trotzkistischen »world socialist website« in seiner ansonsten reichlich überzogenen Rezension hinweist – ein kleinbürgerlicher Zug in Wagenknechts Denken zum Vorschein, der sich, so scheint es, auch in ihrer in letzter Zeit ruchbar gewordenen Nähe zu AfD-Positionen zeigt: »Der Brüsseler Lobbyistenclub ist für die Bürgerinnen und Bürger Europas einfach zu weit weg und nicht durchschaubar. Man kennt die Leute kaum, die dort agieren, und spricht ihre Sprache nicht.« (227) Ein etwas befremdlich anmutendes Urteil, wenn man bedenkt, dass Wagenknecht von 2004 bis 2009 selbst im Europäischen Parlament saß.

Welche Anforderungen stellt die Politikerin nun konkret an ein zukunftsfähiges und gemeinwohlorientiertes Wirtschaftssystem? Zentraler Anker einer Veränderung ist zunächst die Finanzbranche: »Ohne eine andere Geldordnung kann es auch keine andere Wirtschaftsordnung geben.« (191) Mit der Digitalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte seit 1980 sei die Büchse der Pandora geöffnet worden, die es Privatbanken ermöglicht habe, Geld aus dem Nichts zu schaffen und somit die Realwirtschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen, wie sich in der Finanzkrise von 2007ff. gezeigt habe. In einem langen, anspruchsvollen Exkurs legt Wagenknecht dar, was Geld überhaupt sei und welche Funktion ihm in einem sozialen Gemeinwesen zukommen sollte. Eine »gemeinwohlorientierte Geldordnung« (225) mache Geld zum »öffentlichen Gut«, so dass der globale Kapitalfluss auf Basis von regionalen Gemeinwohlbanken unter strenge Kontrolle gebracht werden könne, anstatt seinerseits die Staaten ökonomisch und politisch unter Druck zu setzen.

Eigentum im Dienste des Gemeinwohls – dank neuer Rechtsformen

Eigentlicher Kern der Wagenknechtschen Konzeption ist jedoch eine Reform des Eigentumsrechts, dessen pervertierten Ursprung sie bei John Locke ausmacht. Demnach seien die herrschenden Rechtsformen bloß eine nachträgliche Rechtfertigung dessen, was bei Marx ursprüngliche Akkumulation hieß: »In der Realität […] wurde die Theorie vom Eigentum als einem jeder Staatlichkeit und Gesetzgebung vorgeordneten Menschenrecht als Hebel genutzt, um genau jenes Eigentum zu schützen und zu verteidigen, das sich mitnichten auf die eigene Arbeitsleistung des Eigentümers zurückführen ließ.« (247)

Das genuine Element des Kapitalismus sei die haftungsbeschränkte Kapitalgesellschaft, »ein Widerspruch in sich« (257), der es ermögliche, unbegrenzte Gewinne mit begrenztem Risiko zu erwirtschaften. Das herrschende Unwesen von GmbH & Co. KG und, fast noch schlimmer, privaten Stiftungen, müsse deshalb durch vier neue Eigentums- bzw. Rechtsformen eingehegt werden, die der Öffentlichkeit eine stärkere Beteiligung an Unternehmen ermöglichen, ohne dabei deren marktwirtschaftlichen Charakter aufzuheben: Neben der »Personengesellschaft« (gibt es bereits) und der »Mitarbeitergesellschaft« (mit demokratisch gewählten Aufsichtsräten) würden heutige Großkonzerne zur »öffentlichen Gesellschaft«; zur vierten Form der »Gemeinwohlgesellschaft« würden neben Krankenhäusern und Banken (!) auch Kommunikationsdienstleistungen (»Silicon Valley«) gehören, mit deren zum Monopol tendierenden Netzwerkstruktur sich Wagenknecht auf lesenswerte Weise ebenfalls im Rahmen ihrer Theorie auseinandersetzt.

Doch wo sind die realen Mächte, die diese Veränderungen herbeiführen könnten? So oder ähnlich könnte man abschließend fragen. Offenbar macht sich Sahra Wagenknecht hierüber kaum Gedanken. Als eine Art Niemeyer der Theorie hat sie eine neue Sozialstaatsordnung am Reißbrett entworfen, eine Alternative für Deutschland und die Welt, die merkwürdig berührungslos gegenüber realen Machtverhältnissen und Gegenwartstendenzen daherkommt – es wirkt bisweilen so, als müsste man für das kapitalistische Betriebssystem lediglich einen Patch aufspielen. Abgesehen jedoch von der Frage, wie sich eine solche Konzeption gegen die herrschenden Gegenkräfte (wozu auch viele innerparteiliche Andersdenkende gehören dürften) durchsetzen ließe, ist von einem rationalen Standpunkt nicht ohne Weiteres einzusehen, warum sie nicht funktionieren sollte.

Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten, Frankfurt/M.: Campus 2016, 292 S.

Das Leben, die Philosophie und Donald Trump

Wie es aussieht, hat die Menschheit schon bessere Zeiten gesehen. Sind etwa die Medien an allem schuld? Oder Trump? Dem Denken eine Schneise: Aperçus zum Leben im 21. Jahrhundert, aufgenommen von der deutschen Wohlstandsinsel.

Kurz vor seinem Tod im Oktober 2015 resümierte der Schriftsteller Henning Mankell: „Leben besteht im Grunde aus zwei Dingen: zu überleben und herauszufinden, was nicht stimmt.“ Er beschreibt damit ein Lebensgefühl, das mit der Generation Y zur Grundhaltung wurde und einem philosophischen Urimpuls entspricht: Was soll das Ganze? „Was gibt uns das Zeitalter, in dem wir leben? Welche Dinge haben einen Wert? Welche Dinge haben keinen Wert?“ (Alain Badiou) Wer so fragt, stößt meist, wie schon Sokrates, auf Ungereimtheiten oder gar Missstände.

„Es mag bessere Zeiten gegeben haben. Aber diese da ist unsere.“ (Sartre)

Glaubt man den Gazetten, so leben wir in einer schwierigen Zeit: Krise hat Konjunktur. In jedem zweiten Editorial wird mittlerweile Hamlet falsch übersetzt: Die Welt sei aus den Fugen. Und in der Tat fiele es leicht, Ereignisse der jüngsten Zeit aufzuzählen, die Bestürzung ausgelöst haben. Die Frage muss also lauten, inwieweit es um mehr geht als eine Ausweitung der kulturellen Kampfzone und inwieweit das Unbehagen in der Gesellschaft etwas zu tun mit der „äußeren“ Bedrohungslage.

Jede Lebensäußerung wird zum Asset des Arbeitskraftunternehmers

Zu konstatieren ist, dass man durch eine möglichst durchgängige Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse („Neoliberalismus“) den Daseinskampf auch im Westen in Lebensbereiche getragen hat, die bisher davon weitgehend unberührt geblieben waren: Die Nischen sterben aus; Amüsement und Therapie werden ununterscheidbar; jede Lebensäußerung wird zum Asset des Arbeitskraftunternehmers seiner selbst.

Wo also stehen wir? 10 Thesen zum (geistigen) Leben im 21. Jahrhundert.

Spiegelverkehrt oder Todestrieb und Gleichschaltung. Die Zivilisation nach westlichem Modell siegt sich zu Tode. Sowohl in der äußeren als auch in der inneren Wirklichkeit kolonisiert sie die Welt und die Menschen, sie ist eine monotheistische Maschine, die sich alles anähnelt. Ihr Gebot lautet: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Dem weichen Totalitarismus des Westens, der mit seinen Banken, Industrien und Agenturen aller Art die Erde umwälzt (schöpferische Zerstörung), entspricht als Gegenbewegung der Terrorismus, der zur Artikulation eines spirituellen Lebens ebenso unfähig ist und deshalb im Namen einer obsoleten Religion auf reine Zerstörung setzt. Beiden gemein ist die geistige Leere, die sich jenseits automatisierter Lebensvollzüge keinen Rat mehr weiß.

Günther Anders reloaded. Jede Art von Progressivismus ist heute technisch grundiert; die technologische Eigendynamik ist es, die die Vorstellung von Fortschritt durchgehend bestimmt. Die Träume der Transhumanisten formen die Wahrnehmung des Wirklichen in seiner Ausrichtung auf Zukunft: Warten nicht auf Godot, sondern auf das nächste Gadget.

Warten nicht auf Godot, sondern auf das nächste Gadget

Ersticken an der Oberfläche. Im grassierenden Urbanismus des 21. Jahrhunderts geht die Fähigkeit verloren, „den Dingen auf den Grund zu gehen“. Die nicht zuletzt durch die Smartphone-Revolution befeuerte Fragmentierung der Erfahrung untergräbt die Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. „Reale“ und „virtuelle“ Ereignisse werden im Trommelfeuer ununterbrochener „Kommunikation“ ununterscheidbar – zudem sind Macht und Medien in unheilvoller Weise verklammert: Gestützt auf die Herrschaft des Diskurses verhindern sie Erfahrungsfähigkeit durch die Hegemonie konformistischer Erschlossenheit sowie eingeübter Redeweisen und Deutungen.

Systemischer Irrationalismus. An die Stelle der sinnstiftenden Totalität („Gott“) ist das Apriori der arbeitsteiligen Gesellschaft mit ihren verselbständigten Teilsystemen getreten, die in der Weise des sich gegeneinander Abschließens und Beharrens auf der je eigenen funktionalen Rationalität Ergebnisse produzieren, die vom Standpunkt einer Vernunft, die den Menschen als Zweck begreift, irrational und absurd wirken.

Nach den Ideologien. „Was geschah im 20. Jahrhundert?“ (Peter Sloterdijk) Auf der einen Seite die Erfahrung nie gekannter Menschenverachtung und Zerstörung durch Weltkriege und politische Verbrecherbanden, auf der anderen Seite die Erkenntnis, das dem Denken, dem Begriff selbst, eine Mitschuld zukommt: Die so erhaben wirkende Arbeit des Gedankens ist von Ideologie und Herrschaft nicht zweifelsfrei zu unterscheiden; jede Philosophie ist nicht nur „ihre Zeit in Gedanken erfasst“, sondern eben auch nur eine elaborierte Form von Meinung, die bestimmte Interessen vertritt: Kant war ein Frauenfeind. Marx war Antisemit.

Die Illusion der Inklusion. Wenn wir versuchen, das Bürgertum sub specie aeternitatis als historische Formation zu begreifen, die irgendwann zu Ende geht – was wären seine Insignien? Unter Vermeidung des Begriffs Kapitalismus als einerseits abstrakt, andererseits überdeterminiert wird Exklusion in all ihren Formen zur bürgerlichen Kategorie par excellence: der Nicht-Weißen, der Arbeiter, der Frauen, der Andersdenkenden, der Unfähigen und derjenigen, die für uns in fern und nah die Drecksarbeit machen: „Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die der anderen.“ (Stephan Lessenich).

Philosophie hält die Aussicht auf Anderes wach

Der neue Mensch oder Kommunismus als Geschäftsmodell. Die durch die Digitalisierung potenzierte planetare Technik schafft das, wonach die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts vergeblich strebten: den neuen Menschen – marktkompatibel, glaubenslos und Spaß dabei, dabei allzeit zum „elbowing“ bereit. Dem entspricht der Siegeszug des Plattformkapitalismus: Er kommerzialisiert Bereiche, die bisher dem menschlichen Miteinander vorbehalten waren: So wird mit AirBnB das Teilen der eigenen Wohnung zum Geschäft, und damit, nach einem Gedanken von Byung-Chul Han, der Kommunismus als „community“ zum Produkt des Kapitalismus.

Philosophie als Sich-Offenhalten für das Andere. Philosophisches Denken bezieht seine Stärke aus dem theoretischen Abbau geronnener Verhältnisse. Es entlarvt den Herrschaftscharakter der gängigen Phrasen und Floskeln und dekonstruiert die Diskurse, die das Bestehende zum alleinigen Maßstab des Seins und Denkens erklären – es bringt die verfestigten Zustände wieder zum Tanzen, um die Aussicht auf Anderes überhaupt wachzuhalten.

Survival of the fittest. Aus der religiösen Vergangenheit geblieben ist der Umstand, dass das ganze Leben als Anpassungs- und Gesinnungsprüfung erscheint, als Glaubenstest der Begrenztheit des bürgerlichen Daseins, als Vermählung mit der Endlichkeit des Unausweichlichen: „Calm, fitter, healthier, and more productive“ (Radiohead). Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, wenigstens daran hat sich seit 1840 nicht viel geändert.

Kein richtiges Leben im falschen. Aus Sicht asiatischer Lebensweisheit haben wir ein absurdes Verhältnis von Leben und Tod eingenommen: „Wir sind zu lebendig, um zu sterben, und zu tot, um zu leben.“ (Byung-Chul Han, zitiert nach ZDF Aspekte). Die Lebensführung im Ganzen ist es, der Sinn abgeht: „Der Mensch lebt, als würde er nie sterben, und dann stirbt er und hat nie wirklich gelebt.“ (Tenzin Gyatso) Die konsumistische „Lebensersatzhygiene“ (Habermas) kennt offenbar nur ein Ziel: das der Fortsetzung ihrer auf Raubbau angelegten Lebensweise um jeden Preis.

Overstatement statt Verantwortung, Selbstsuggestion statt Moral

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch in der verwalteten Welt lässt es sich prima leben, solange man „verdient“ und sich von Fanatismus, den Ausgeschlossenen und dem „integralen Unfall“ (Paul Virilio) nicht weiter stören lässt.

Was aber wäre eine Kolumne ohne Trump? Die Fratze des hässlichen Amerikaners ist wieder da, und man weiß oft nicht, ob man lachen oder weinen soll. Dabei lieferten die Erklärung für das Phänomen „The Donald“ schon vor einiger Zeit zwei seiner Landsleute. Der Dunning-Kruger-Effekt besagt sinngemäß: Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er im Grunde gar nicht wissen, dass er inkompetent ist – so einfach ist das!

Folgerichtig fallen in Trumps Selbstlob nach 100 Tagen, es sei der beste Start einer Präsidentschaft in der Geschichte der USA gewesen, Satire und Realität auf eine Weise zusammen, die jede Parodie oder gar Kritik obsolet erscheinen lässt: Am Sieg des totalen Selbstmarketings des blender of the blenders werden weitere unheilvolle Tendenzen des Zeitalters offenbar: Overstatement statt Verantwortung, Selbstsuggestion statt Moral.

Dieser Artikel erschien online bei The European.

Alain Badiou über das wahre Glück

Lebten wir nicht in der vollendeten Gesellschaft des Spektakels, wo „der Betrieb verschluckt, was immer auch geschieht“ (Adorno), man müsste Badious Bücher mit dem Etikett „parental advisory“ versehen. Als wollte er selbst in diese Kerbe hauen, erschien gerade bei Suhrkamp ein neuer Band mit dem vielsagenden Titel Versuch, die Jugend zu verderben. Der französische Obertitel „La vraie vie“ (im Deutschen nicht übernommen), das wahre Leben, verweist auf Badious ungeheure Ambition, dem triumphierenden Konsumkapitalismus noch einmal mit den Mitteln des Denkens sich entgegenzustellen.

Rechts oder links? Auf der Suche nach dem wahren Glück wird Badiou unter anderem bei Paulus fündig. (Bild: Rijksmuseum, 17. Jh. , anonym)

Das Buch Philosophie des wahren Glücks zerfällt äußerlich in zwei Teile: einen ersten, systematischen Teil (Kapitel 1-3), wo Badiou, ausgehend von seiner Gesellschafts- und Zeitdiagnose, die Koordinaten seines Denkens gleichsam rückblickend entfaltet; und einen zweiten Teil, wo er vorausblickt auf den geplanten Abschluss seines philosophischen Hauptwerks, der Die Immanenz der Wahrheiten heißen soll. In kursorischer Weise versammelt er seine Grundgedanken, die um den Begriff des Ereignisses kreisen sowie natürlich um das „wahre Glück“, das wesentlich in der Treue zum Ereignis besteht.

Alain Badiou: Philosophie des wahren Glücks, Wien 2016 (Passagen), 104 S., brosch., 13,90 EUR

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