Münchner Räterepublik: Klemperers doppelter Rückblick

Victor Klemperer, Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919, Berlin: Aufbau 2015, 263 S.

Vom Aufbau-Verlag aus dem Nachlass montiert, sind die bereits 2015 erschienenen Aufzeichnungen Victor Klemperers ein eigenwilliges Zeitdokument der Revolutionszeit in München: Durch die Gegenüberstellung der Zeitungsartikel von 1918/19 mit den späteren, bisher unveröffentlichten Erinnerungen von 1942 ergeben sich zahlreiche Sprünge und Redundanzen im Text; zeitweise droht dadurch die Orientierung etwas verloren zu gehen. Lesenswert sind die Texte jedoch allemal. Klemperer, damals 36-jährig und gerade von der Ostfront zurückgekehrt, wo er als Sanitäter und Berichterstatter Dienst leistete, erweist sich als genauer, unerbittlicher und durchaus um Pointen bemühter Beobachter des Geschehens in München.

Victor Klemperer (1881-1960), Beobachter der Münchner Räterepublik, um 1930

Seine Berichte an die konservativen Leipziger Neuesten Nachrichten, von denen ein gewichtiger Teil nie abgedruckt wurde, weil der Postlauf durch die Revolutionswirren zeitweise zum Erliegen kam, zeichnen jedoch ein subjektives, beinahe mehr über Klemperer selbst als über die Revolution aussagendes Zeitbild. Der nicht mehr ganz junge Privatdozent für Romanistik – „die Vertiefung in Montesquieu hatte mich nicht nur philologisch und literarisch bereichert“ (61) – zeigt sich über weite Strecken als bürgerlicher, vor allem um politische Freiheiten besorgter Charakter.

Die Revolution erscheint komisch und tragisch zugleich

An den Protagonisten der Revolution, von denen er Eisner, Landauer und Levien persönlich trifft, lässt er kein gutes Haar: Er beschreibt sie als naive, sich aus der Schwabinger Bohème rekrutierende Dilettanten, deren politische Romantik gefährlich sei – oder, für den Fall Leviens, Radikale, von denen außer Gewaltexzessen nichts zu erwarten sei. Auch die Münchner Bevölkerung kommt nicht gut weg. Klemperer hält sie für Mitläufer und Ahnungslose, die nicht verstehen, was vor sich geht und die sich willenlos treiben lassen. Etwas ratlos heißt es an einer Stelle im Rückblick von 1942: „Das Rätsel der bayerischen Volksstimmung oder Volksseele war unlösbar.“ (55) Und im „Revolutions-Tagebuch“ vom 17. April 1919: „Die Passivität ist die einzige echtbayerische Zutat zu dieser Revolution, die von Nichtbayern gespielt wird und fremde Namen und fremde Institutionen kindisch nachahmt.“ (117)

Auffällig an Klemperers Aufzeichnungen, sowohl den frühen aus München als auch den späteren – Klemperer, obwohl frühzeitig zum Protestantismus übergetreten, überlebte den Zweiten Weltkrieg in einem sogenannten „Judenhaus“ in Dresden –, sind zwei Dinge: Zum einen die allgemeine Unentschiedenheit und die für einen erfolgreichen Akademiker – Klemperer wurde 1920 Professor in Dresden – ausgeprägten Selbstzweifel, die durch seine heiter-ironische, pointenreiche Schreibweise mehr überspielt als kaschiert werden. Zum anderen aber das weitgehende Fehlen einer Auseinandersetzung mit politischen Ideen und deren historischen und philosophischen Voraussetzungen. Sämtliche politischen Lager werden wie beliebige Weltanschauungen behandelt, von denen man je nach Gusto die eine oder eben die andere wählen könne; politisches Personal und dessen Legitimation wird am Aussehen und Auftreten gemessen sowie an der Fähigkeit, zu repräsentieren und zu führen; und so überrascht  Klemperer über den Enthusiasmus fast ganz Münchens Kurt Eisner gegenüber ist, so bestürzt ist er über die Ermordung des Ministerpräsidenten unmittelbar vor seiner Abdankung.

Wie passen Skeptizismus und Kommunismus zusammen?

Die zentrale These Klemperers über die Münchner (Räte)Republik, die er von dem Forstwissenschaftler Karl Escherich (den er wohl zu Unrecht rechter Umtriebe verdächtigt) übernimmt, lautet, alles sei nur eine „Münchner ‚Gaudi‘“, die schnell vorübergehe (54). Im Großen und Ganzen dürfte er mit dieser These, angesichts des krassen Gegensatzes von Stadt und Land und des weitgehenden Fehlens einer „Roten Armee“, nicht falsch liegen. (Als sehr hilfreich bei der Einschätzung der gesamtdeutschen Lage erweist sich der wohltuend neutral gehaltene, auf Information statt Meinung setzende Essay des Historikers Wolfram Wette im Anhang des Bandes.) Die unfreiwillige Komik des Revolutionsgeschehens verkehrt sich freilich am Ende auf doppelte Weise in Tragik: Nicht nur wird die zuletzt von den Spartakisten angeführte Räterepublik von preußischen „Mehrheitssozialisten“ blutig niedergeschlagen, Häuserkampf im Stadtzentrum und Massaker an Unschuldigen eingeschlossen; der vor allem unter den Münchner Studenten – weniger als ein Jahr nach Beendigung des Ersten Weltkriegs, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, der „letzten Tage der Menschheit“ (Karl Kraus)! – grassierende Antijudaismus und Militarismus weist bereits auf das kommende Inferno des Dritten Reiches voraus.

Man kann Klemperers Aufzeichnungen kaum beurteilen, ohne seine weitere Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu betrachten: 1945 tritt er aus der Kirche aus und der Kommunistischen Partei bei; er erhält seine Dresdner Professur zurück und wird schnell Teil der DDR-Elite, baut als Funktionär bis zu seinem Tod 1960 mit am real existierenden Sozialismus. Auch seine Tätigkeit als Chronist seiner Welt, die ihn später berühmt machen wird, führt er fort. Wie passt all das zusammen? Glaubt man dem ausführlichen Lektürebericht des US-amerikanischen Germanisten Peter Demetz, so lebte Klemperer in diesen späten Jahren ein Doppelleben als „SED-Professor und radikaler Skeptiker“ und war „mit sich selbst zerfallen“. Dass er nun plötzlich im Lager der Kommunisten stand, war für ihn, wie er sich offenbar immer wieder selbst zu überzeugen suchte, „das kleinere Übel“ angesichts des faschistoiden Unterbaus im liberalen Teil Nachkriegsdeutschlands. War dies nun das folgerichtige Schicksal eines mit übermäßiger Skepsis, Beobachtungsgabe und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber begabten Denkers, sich nie wirklich zugehörig zu fühlen und so letztlich „zwischen allen Stühlen zu sitzen“ (so der bezeichnende Titel seines letzten Tagebuchbands)? Man wird seine späten, weit über 1000 Seiten umfassenden Aufzeichnungen genau lesen müssen, um eine Antwort und vielleicht ein revidiertes Urteil über das revolutionäre München zu finden.


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