Einem berühmten Ausspruch Maos zufolge kommt die politische Macht aus den Gewehrläufen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. In diesem Sommer hat die linksextreme FARC in Kolumbien nach mehr als einem halben Jahrhundert dem bewaffneten Kampf abgeschworen – das Ende einer Ära? Der Konflikt zwischen dem bis auf Weiteres siegreichen Liberalismus und dem sozialrevolutionären Marxismus scheint entschieden; und verglichen mit diesem welthistorischen Drama wirkt selbst der Faschismus wie eine – freilich alptraumhafte – Episode.
Es war Foucault, der im Fahrwasser Nietzsches nach den Wandlungen der Macht fragte und dabei auf die „Disziplin“ stieß: diese Weise, Körper zu formen und zu lenken, im Raum und in der Zeit anzuordnen und so beherrschbar zu machen. Der Sieg des Lebens über den Tod im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert rufe neue Formen der Herrschaft auf den Plan, die sogenannte „Bio-Macht“: Die alten Souveränitätsgesellschaften werden nach und nach abgelöst von Disziplinargesellschaften; „leben machen statt sterben machen“ lautet nun die Devise – im neuen Regime der Körper werden Fähigkeiten gesteigert, Dressuren eingeübt und Arbeitsabläufe wirksam zusammengesetzt. Während in der Vormoderne sich die letale Gewalt des Staates in der öffentlichen Hinrichtung wirkungsvoll manifestierte, ist die moderne Machtform gekennzeichnet durch „Einschließungsmilieus“ (Gilles Deleuze), in denen humanwissenschaftlich erforschtes Normverhalten durch „Überwachen und Strafen“ den Subjekten inkorporiert wird.
Das Leben im Büro als Hindernislauf ohne Happy-End
Deleuze war es auch, der im „Postskriptum über Kontrollgesellschaften“ (1990) über Foucault hinausging und das Aufkommen einer neuen, wenn man so will postmodernen Machtform diagnostizierte: Noch vor dem Siegeszug des World Wide Web sah er mit Paul Virilio die neuen „ultraschnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“ sich entfalten, die seit den Enthüllungen durch Edward Snowden zur traurigen Gewissheit geworden sind. Hinzukommt die Verabsolutierung des unternehmerischen Denkens, das mit der Heilslehre des New Public Management und den „Freuden des Marketings“ (Deleuze) ein umfassendes Daseinsregime ins Werk setzt, in das der postmoderne Mensch unmerklich eingewoben ist: Zwischen Vermarktungszielen, Leistungskennzahlen, Reportpflichten und Wettbewerbsrücksichten wird das „Leben im Büro“ (Christoph Bartmann) zum Hindernislauf ohne Happy-End und zur Odyssee ohne Wiederkehr, die die investierte Spontaneität sorgsam verbrauchen und von Infragestellungen inhaltlicher Art ebenso sorgsam abführen.
Angesichts der Gewalteskalation beim jüngsten G20-Gipfel stellt sich die Frage: Wo beginnen? Wen angreifen? Leben wir tatsächlich in einem global angelegten „Wirtschaftsfeudalismus“ (Sarah Wagenknecht), einem Amalgam aus Großkonzernen und bürgerlichen Regierungen, das von einigen wenigen aus dem Off dirigiert wird? So sieht es etwa auch der Philosoph Alain Badiou, der vier Gruppen identifiziert, von denen noch revolutionäres Potential auf globaler Ebene ausgeht: 1. Das nomadische Proletariat – Heimatlose aller Länder, die auf der Suche nach Arbeit umherziehen, egal ob in Afrika, Europa, oder China; 2. Teile der Mittelklasse, die sich wirtschaftlich bedroht fühlen und gegen populistische Einflüsse immun sind; 3. Ein Teil der Jugend, der für die kommunistische Hypothese empfänglich ist; 4. Intellektuelle, die die Bewegung anführen könnten.
Von einer Bewegung ist aber, jedenfalls in Deutschland, wo da hohe Wohlstandsniveau als verlässliches Sedativum wirkt, nichts in Sicht, auch das hat G20 eindrucksvoll gezeigt: Auf der einen Seite die unzufriedenen, aber passiven Bürger, auf der anderen die gewaltbereiten, aber nicht anschlussfähigen „Autonomen“. Neu ist höchstens, dass bis weit in die bürgerliche Mitte hinein zum Ungehorsam und zu alternativen Organisationsformen aufgerufen wird (zuletzt zum Beispiel der Philosoph Dieter Thomä: „Jetzt reicht‘s“, in der ZEIT). Auch bei der Documenta, einer Veranstaltung der bürgerlichen Mitte (mit Catering im Stil von Industriemessen), glaubt man sich auf der Seite der Gegen-Macht: Im Glossar der Documenta-Sonderausgabe der Zeitschrift Weltkunst heißt es über „Macht“, ich zitiere:
„Die dunkle Seite der Welt, die unseren Planeten nachhaltig verfinstert. Neokoloniale, patriarchale und heteronormative Ordnung, getragen von einem komplexen Netzwerk aus politischen und militärischen Kräften, die global die Zwecke des Finanzkapitalismus aufrechterhalten und zugleich das alte, nicht mehr haltbare Konzept einer Welt aus souveränen Nationalstaaten fortsetzen. Ihr Endziel ist Kontrolle über jeden Einzelnen, ihr wirksamstes Instrument ist die Angst.“
Abgesehen vom bizarren ersten Satz mit seiner Mischung aus Star-Wars-Rhetorik und allerabgegriffenstem Marketing-Sprech, was ist von dieser Beschreibung der Wirklichkeit zu halten? Klar ist, so neuerdings Pankaj Mishra (ähnlich bereits Deleuze): „Der globale Bürgerkrieg steckt tief in uns selbst; seine Maginot-Linie läuft quer durch unser Herz und unsere Seele.“
Ich bin, der ich bin: Der Imperativ der Vereinzelung
Obwohl es oft betont wurde, man muss es bekräftigen: Die neue, postmoderne Machtform aktiviert, statt zu beschneiden; sie bindet ein und schließt aus, ihre institutionellen Relais schalten zuverlässig je nach Anpassungsfähigkeit des Einzelnen. Obwohl die Macht nicht unsichtbar ist, lernt sie vor allem kennen, wer sich dagegen auflehnt. Gleichzeitig fordert sie jedoch dazu auf, sich zu zeigen, Einfluss zu nehmen, sich zu vernetzen und in der Hierarchie aufzusteigen – also jenes Netzwerk, von dem oben die Rede war, mitzutragen.
Vom anarchistischen „Unsichtbaren Komitee“ bis zum früh verstorbenen Frank Schirrmacher sind kreative Gegengeister sich einig: Das permanent produktive, sich selbst ausstellende, öffentliche Normen verwandelnd sich aneignende und sie dadurch bekräftigende Ich ist der Kulminationspunkt des „Systems“, in dem Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung zusammenfallen. „I AM WHAT I AM. Niemals hat Herrschaft eine über jeden Verdacht erhabenere Losung gefunden.“
Wie könnte die Opposition gegen eine solche Machtform aussehen?
Terrorismus ist keine Lösung, nicht nur aus feingeistigem oder moralischem Gewaltverzicht heraus – er ist kontraproduktiv, denn der postmodernen Hydra wachsen für jeden abgeschlagenen Kopf drei neue; der Tod kommt krass, doch der unschuldige Einzelne bedeutet dem utilitaristischen, an Statistik und Infrastruktur glaubenden System nichts; und letztere ist schnell repariert, der Schaden geflickt, die Störung behoben; das World Trade Center erstrahlt heute in härterem Glanz als ein Vierteljahrhundert zuvor. Im Gegenteil, der Terrorismus führt zu weiterem Freiheitsverlust und umfassenderer Kontrolle, denn die Nadelstiche reizen die Resistenz des Systems und provozieren Präventivmaßnahmen.
Auch der Spiritualismus hat es schwer, weil er, ebenso wie die Kunst übrigens, auf den medialen Komplex angewiesen ist, um sich zu bekannt zu machen und zu verbreiten – so wird er zur nächsten Sau gemacht, die durchs global village getrieben wird, das nach Neuigkeiten sich verzehrt. Man könnte die These wagen, dass Paulus, hätte es den heutigen politisch-medialen Komplex damals schon gegeben, keine Chance gehabt hätte mit seinem against all odds Furore machenden Christentum.
Bleibt nur der Moralismus, der bekanntlich ein „imaginärer Souveränismus“ (Peter Sloterdijk) ist: Der Denker zieht sich auf sich selbst und den unmittelbaren Kreis moralischer Gewissheit zurück, um vom Elfenbeinturm der höheren Werte aus seiner Gegenwart den geistigen Bankrott zu demonstrieren. Roger Willemsen hat das in Wer wir waren exemplarisch und beeindruckend vorgeführt, indem er aus der Perspektive zukünftiger Historiker den Kleinmut, die Perspektivlosigkeit und den Nihilismus des Westens sezierte.
Wenn Sie noch eine Idee haben, ich bin noch eine Weile in der Gegend.